Tonglen

Tonglen

Tonglen

Atem und unsere Verbindung zu Allem – Mitgefühl. Die Entwicklung und Übung von Mitgefühl ist wesentlich für Heilung. Niemand kann ganz und heil sein, solange er oder sie alles andere als fremd  betrachtet, solange eine Mauer um sich und sein Herz errichtet ist. Reflexartig wollen die meisten Menschen alles Unangenehme loswerden oder von sich fernhalten, alles Angenehme dagegen in den eigenen Herrschaftsbereich bringen. Das verstärkt jedoch die Abspaltung, die Trennung, und führt zu Leiden – gegen alle natürlich Absicht.

Atishas Übung „Tonglen“ kann hier sehr heilbringend wirken, und ich empfehle sie immer wieder. Tonglen arbeitet mit dem Atem:

Die Luft, die Sie gerade einatmen, ist die Luft, die Ihre Zimmerpflanze oder der Mensch neben ihnen in der U-Bahn eben ausgeatmet hat. Wir tauschen unseren Atem mit allen lebenden Wesen aus. Wenn wir uns dessen bewusst sind, können wir uns nicht vom Rest der Welt abgrenzen. Wo fängt Ihr Atem an und wo hört der Atem Ihres Nachbarn auf? Es ist ein Atem, ein Leben. Hier wird die Vernetztheit und gegenseitige Bedingtheit aller Phänomene und aller Wesen so deutlich, so klar, so praktisch. Im Beobachten des Atems stellt man fest: Es gibt keine Trennung zwischen Außen und Innen, sondern ein Zusammenspiel, eine Harmonie.

Von hier aus ist es ein kleiner Schritt zu Atisha, einem tibetischen Meister des 11.Jhdts., der schreibt: „Übe dich im Austauschen (=Tonglen), im Nehmen und Geben abwechselnd. Tu das indem du auf dem Atem reitest. Beginne die Übung mit dir selbst.“

Die scheinbar natürliche Verhaltensweise, alles Angenehme zu sich heranzuziehen und alles Unangenehme von sich abzuhalten, hält in Wahrheit die Idee der Trennung meiner selbst vom Rest der Welt aufrecht, ist Ausdruck der Territorialbildung des kleinen Ich, der Verblendung, und sie verursacht Gier, Hass und Leiden. Atishas Aufforderung, mit dem Ausatmen Angenehmes loszulassen und zu verströmen, ohne dabei irgendetwas zurückzuhalten, und mit dem Einatmen Unangenehmes ins Herz hereinzunehmen und ohne Rückhalt zu fühlen, bewirkt eine Kehrtwendung. In diesem Mitgefühl lösen sich alle Grenzen auf, und Weisheit scheint auf. Diese Kehrtwendung beschränkt sich nicht auf die Zeit, die man auf seinem Meditationskissen verbringt, sondern ist sehr praktisch und muss sich im Leben zeigen und erweisen. So manche gewohnte Reaktionsweise wird dann nicht mehr möglich sein.

Ich erkläre dies am Beispiel des Gefühls von Hilflosigkeit, das sicher jeder kennt:

Immer wieder empfinde ich zum Beispiel Hilflosigkeit, wenn mir Leiden begegnet und ich nichts tun kann, um zu lindern. Sei es der gewaltsame Tod von vielen als Geiseln genommenen Kindern einer Schule in Russland, sei es emotionales oder persönliches Leiden in meinem Umfeld. Der erste Schritt für mich ist einerseits das Anerkennen meiner eigenen Hilflosigkeit als Faktum, und dass ich mich davor nicht drücke und gleichzeitig dieses Gefühl tief in mein Herz sinken lasse und es annehme. Als erstes muss man aufhören, vor diesem natürlich unangenehmen aber einfach höchst menschlichen Gefühl davon zu laufen. Solange wir leben, werden wir uns immer wieder hilflos fühlen. Als zweiten Schritt nutze ich dieses Gefühl der Hilflosigkeit, um mich in Mitgefühl zu üben für alle Menschen und Wesen, die sich auch hilflos fühlen oder sich in einer Lage der Hilflosigkeit befinden. Empfinden wir selbst gerade ein Gefühl dieser Art in uns, dann ist das der ideale Zeitpunkt um Mitgefühl zu üben, Tonglen, oder „Atishas Heart“, wie Osho es nannte, zu praktizieren. Ich atme all die Hilflosigkeit, die in mir und in anderen Wesen ist, ein, und atme alles, was in mir an Mut, Strahlen, Zuversicht ist, aus. Auf diese Weise wird Hilflosigkeit (und jedes andere Gefühl) in Segen verwandelt. Das ist tiefste Alchemie.

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