Die Frage nach Gerechtigkeit

Die Frage nach Gerechtigkeit

Die Frage nach Gerechtigkeit

Mensch & Sein 12/01 Rubrik SATSANG

Gibt es Gerechtigkeit als eine Art universelles Gesetz oder ist sie nur das Konzept eines selbstgerechten Verstandes?Könnte Karma als Gerechtigkeit (im Sinne des universellen Gesetzes) betrachtet werden — z.B. Wir sind alle einmal Opfer und Täter gewesen?

Pyar: Die Frage nach Gerechtigkeit ist urmenschlich. Es ist die Frage nach Ausgleich, nach Balance. Gerechtigkeit hat ihren Platz und ist hilfreich in unserem menschlichen Zusammensein. Aber kann sie wirklich befriedigen? Kann sie echten Frieden schaffen in uns und zwischen uns? Gerechtigkeit verlangt Ausgleich — verlangt Strafe und Belohnung. Und der Bestrafte oder Belohnte ist damit ein Objekt einer übergeordneten Macht, die über Gerechtigkeit befindet, die wägt und misst und urteilt. Der Gott des Alten Testaments war ein solch gerechter Gott, er war ein strafender, belohnender, urteilender Gott. Mit Jesus hat sich dieses Gottesbild in der westlichen Welt geändert. Jesus spricht von Vergebung und von Liebe und vor allem lebte er Vergebung, Mitgefühl und Liebe.
Liebe, Mitgefühl und Vergebung urteilen nicht, wägen nicht, messen nicht. Sie sind größer als Gerechtigkeit, sind jenseits von Gerechtigkeit. Liebe ist wahrhaft universell — jenseits von Gesetz. Gerechtigkeit ist ein urmenschliches Ideal, Liebe ist Göttlichkeit selbst. Gott ist Liebe. Und so vieles hängt an diesem Begriff von Gerechtigkeit, insbesondere, wenn wir als Menschen uns dieses Wägen und Messen und Urteilen anmaßen zu übernehmen: Rache ist da nicht weit, Schuld und Sühne, Bedingungen und Handel, Richtig und Falsch, Urteil. Gerechtigkeit ist das Gesetz von Auge um Auge und Zahn um Zahn. Die Luftangriffe der USA auf Afghanistan wurden ,,Operation infinite justice“ genannt. Ja, da geht es um Vergeltung, um Bestrafung und Gerechtigkeit. Und wohin führt sie: neues Leid, neue Schuld, neue Vergeltung, neue Runde, neue Runde, neue Runde… Das ist das Rad der Wiedergeburt. Es dreht sich in diesem Leben, auf diesem Planeten — die immer neue Geschichte im alten Muster von Schlag und Gegenschlag, von erlittenem Unrecht und zugefügtem Unrecht. Auch die gängige Vorstellung von Karma ist sehr eng und führt entweder auch zum Konzept von Sühne und Belohnung oder aber zu einer Haltung von Fatalismus, zu einem ,,Ich kann ja eh nichts tun“, führt so zu Unfreiheit und Würdelosigkeit. Für mich ist Karma einfach nur ein Gesetz von Ursache und Wirkung innerhalb der Welt der Phänomene. Ein Naturgesetz, das wirkt. Es hat nichts mit Schuld oder Belohnung zu tun. Und es lässt die Freiheit für Gnade und Vergebung und es lässt die Freiheit des Momentes — es lässt die Würde aller Wesen in all ihrer Individualität unangetastet. Es kann durchaus sein, dass wir alle Opfer und Täter waren über die lange Zeit betrachtet, wir wissen es nicht. Und das ist nur ein Grund mehr für Mitgefühl, für Demut, Bescheidenheit und Wachheit. Ein Grund mehr in die Liebe zu fallen, das Urteilen aufzugeben, Wachheit und Hingabe zu üben, da zu sein — ganz da zu sein. Wie Jesus ganz da war in jedem Moment seines Lebens — vollkommen göttlich und vollkommen menschlich.-